Was ist Kultur?
„Kultur“ ist ein Allerweltswort. Es könnte ebenso eine Pflanzenzucht wie das Codewort für eine gesellschaftliche Elite gemeint sein. Ich schlage folgende Definition vor: Mit Kultur bezeichne ich die Summe der in einer Gesellschaft gelebten kollektiven Gewohnheiten. Der Soziologe Os Guinness spricht ähnlich vom „Weg gemeinsam gelebten Lebens“. Es geht also um die Vorgänge, über die wir uns oft kaum Gedanken machen. Danach gefragt, antworten wir „das macht man (heute) einfach so“.
Der biblische Begriff „Welt“
Die Bibel spricht immer wieder von der Welt. Doch Achtung: Sie gebraucht ihn in mehrerlei Hinsicht. David F. Wells hat die dreifache Bedeutung herausgearbeitet:
- Erstens kann die geschaffene Welt gemeint sein (Apg 17,24; 1Pt 1,20; Heb 10,5; 1Kor 14,10). Gott schuf diese Welt und unterhält eine anhaltende Beziehung zu ihr (Heb 1,2-3).
- Zweitens spricht die Bibel von der Welt im Sinne der menschlichen Gemeinschaft (Röm 5,12; 3,6; Mk 14,9; Röm 1,8; 2Kor 1,12). Nun versteht es sich von selbst, dass es für Christen unangebracht wäre, sich aus diesen beiden unauflösbaren Bezügen herauslösen zu wollen und sich selbst als über- oder anders-weltlich zu definieren. Jeder Christ ist innerhalb von Gottes Schöpfung und der menschlichen Gemeinschaft zum Leben und Handeln berufen worden.
- Drittens spricht die Bibel von der Welt als dem Kollektiv der gefallenen Menschheit. Es geht um die Sphäre menschlichen Denkens, Planens und Wünschens – seiner Rücksichtnahmen, Vergnügungen, Ziele, Pläne und Begehren: Der gefallene Mensch hat das „Kontrollzentrum“ seines Lebens um das eigene Ich herum organisiert. Dies dient als Ersatz für Gott.
Schöpfung und Erlösung
Bringen wir die beiden Begriffe „Kultur“ und „Welt“ zusammen: Als Menschen leben wir in Gottes geschaffener Welt und gehören zur menschlichen Gemeinschaft. Jedoch werden wir als Sünder geboren und nehmen darum am Kollektiv der gefallenen Menschheit teil. Folglich können wir uns der Kultur als Summe kollektiver Gewohnheiten gar nicht entziehen.
Eine stetig lauernde Gefahr innerhalb der christlichen Kirche war die „Vergeistlichung“ des Lebens. Es wird eine Unterteilung in „geistliche“ und „weltliche“ Tätigkeiten vorgenommen. Das ist jedoch theologischer Unfug. Indirekt sagen wir damit: „Der Gott, der diese Welt und uns Menschen auf eine bestimmte Art und Weise geschaffen hat, ist ein anderer als der, welcher uns erlöst.“ Offensichtlich ist die Beziehung zwischen Schöpfung und Erlösung eine andere: Derselbe Gott, der uns auf eine bestimmte Art und Weise geschaffen hat, stellt uns durch die Erlösung (zumindest teilweise) wieder her.
Struktur und Richtung
Noch ein Sachverhalt muss sorgfältig auseinandergehalten werden: Der Mensch ist in der Lage einer Vielzahl von Tätigkeiten nachzugehen. Ich nehme ein Beispiel, das sich besonders zur Illustration eignet: Der Mensch kann tanzen (oder zumindest, wie in meinem Fall, sich rhythmisch bewegen). Je nach Nationalität und Beweglichkeit ist seine Fähigkeit dazu unterschiedlich ausgeprägt.
In Psalm 149,3 und 150,4 lesen wir davon, dass Gottes Bundesvolk Ihn mit Reigen lobt. Hier ist unverkennbar rhythmische Bewegung gemeint, die zum Takt von Tamburinen entsteht. Ohne jetzt in eine Diskussion über Gottesdienstformen zu geraten, können wir festhalten: Der Tanz an sich ist grundsätzlich eine menschliche Ausdrucksform und in sich nicht verkehrt.
Der kanadische Theologe Albert Wolters weist aber darauf hin, dass gewisse Lebensbereiche durch den Sündenfall ihre ursprüngliche Absicht grundsätzlich verkehrt haben. Das verführerische Tanzen gilt auch in unseren Kulturkreisen als eine Tätigkeit, welcher bei der Suche nach einem Sexualpartner bevorzugt nachgegangen wird.
Was will ich damit sagen? Der Tanz an und für sich ist eine menschliche Ausdrucksform (Struktur). Allerdings missbraucht der Mensch sie (Richtung). Es gilt zwischen diesen beiden Begriffen zu unterscheiden. Denn Gottes Schöpfung ist in sich nicht verkehrt, sondern durch die Sünde entstellt.
Unterschiedliche kirchliche Prägungen
Es ist also ganz schön kompliziert. Um es noch etwas schwieriger zu machen: Jeder einzelne Christ ist Teil von bestimmten Sub-Kulturen. In Bezug auf seine „Sozialisierung“ als Christ spielt es eine große Rolle, wo er aufgewachsen ist bzw. in welcher Gruppe er zum Glauben gekommen ist. Er übernimmt durch die Zugehörigkeit ein bestimmtes Schema, wie er sich innerhalb dieser Gemeinde, aber auch außerhalb zu bewegen hat. Timothy Keller hat eine hilfreiche Typologie vorgelegt (in seinem Buch „Center Church“; Kapitel 15-17). Er unterscheidet zwischen vier Modellen:
1. Transformationsmodell
Nach diesem Selbstverständnis sollten Christen in jedem Lebensbereich „ausdrücklich als Christen denken und handeln, denn alles kulturelle Handeln setzt (zumindest implizit) ein System religiöser Überzeugungen voraus.“ Wenn sie sich ihrer christlichen Überzeugungen bewusst sind, „werden sie alles prägen, was ich im Leben tue. Mein Beitrag in der Kultur wird die Gesellschaft in eine bestimmte Richtung bewegen und ich werde damit die Kultur verändern.“ Das Erlösungswerk Christi wird sowohl auf das individuelle Seelenheil wie auch auf die Erneuerung der materiellen Welt bezogen.
2. Relevanzmodell
Christsein wird in diesem Denkrahmen als grundsätzlich kompatibel mit der umgebenden Kultur betrachtet. „Seine Vertreter glauben, dass Gott auch in solchen kulturellen Bewegungen erlösend wirkt, die gar nichts ausdrücklich mit dem christlichen Glauben zu tun haben.“ Die Ethik der Kultur wird mit der Ethik des Evangeliums „synthetisiert“, anstatt die Ethik der Kultur durch das Evangelium zu transformieren. „Die Welt gibt der Gemeinde ihre Agenda vor.“
3. Modell der Gegenkultur
Vertreter dieser Richtung „sagen geradeheraus, dass keine dauerhafte Verbesserung der Gesellschaft zu erwarten ist, und hegen wenig Hoffnung, dass die Kultur entsprechend christlicher Werte transformiert werden könnte.“ „Das Beste, was die Gemeinde für die Welt tun kann, ist, ihr das Reich Christi zu zeigen – und zwar am ehesten durch Gerechtigkeit und Frieden innerhalb ihrer Gemeinschaft.“ „Gemeinde ‚fördert‘ weder das Reich Gottes noch ‚baut‘ oder ‚bringt‘ sie es, sondern ist ein Zeichen für das künftige Reich.“
4. Zwei-Reiche-Lehre
Nach diesem Modell existiert ein doppelter Rahmen für Gottes Herrschaft. Auf der einen Seite gibt es das ‚weltliche Reich‘, das durch den Bund mit Noah in 1. Mose 9 errichtet worden ist. Neben diesem weltlichen gibt es das ‚geistliche Reich‘, das durch den Bund mit Abraham in 1. Mose 12 begründet wurde. Christen sollten nicht versuchen, ihre Tätigkeit auf eine besonders christliche Art und Weise zu gestalten. Der säkulare, neutrale Staat ist „von Gott gewollt – aber gerade nicht als der Verordner religiöser Werte“.
5. Meine eigene Prägung
Dies ist ein guter Moment, um eine Pause einzulegen und sich die eigene Prägung zu überlegen. Timothy Keller schlägt nämlich eine Kombination der vier Ansätze vor; jedes Modell beinhaltet biblische Überlegungen. Wenn jedoch ein Ansatz überwiegt, entwickelt sich ein geistliches Ungleichgewicht.
Mein heutiges Verständnis bewegt sich zwischen dem Modell der Gegenkultur (das ich beispielsweise in dem kulturell sensitiven Bereich der Bildung lebe; wir unterrichten unsere Kinder privat) sowie dem transformativen (ich sehe es als Aufgabe, innerhalb meines Berufsstandes neue Modelle und Vorgehensweisen zu entwickeln).
Überreaktionen aufgrund von eigenem Erleben führen je nach Lebensphase zu bestimmten Reaktionen und Übertreibungen. Bei mir war das beispielsweise in den jungen Erwachsenenjahren die Übernahme einer Form des Relevanzmodells. Ich merke jedoch, dass ich in Gemeindekulturen, in der die Gegenkultur dominiert, mir reflexartig überlege, wie die Anschlussfähigkeit wiederhergestellt werden kann.
Es ist zudem zwischen Grundposition (Haltung) und der bewussten Übernahme von Elementen anderer Modelle (Gesten) zu differenzieren. (Meine eigene Grundposition ist wie gesagt die moderat-transformatorische, wobei ich jedoch vor allem Elemente des Modells der Gegenkultur, aber auch des Relevanzmodells integriere.)
Kultur und Alltag
Jetzt bin ich in der Lage, die Brücke zu unserem Alltag und unseren Gewohnheiten zu schlagen. In unserem Tagesablauf folgen wir unzähligen Gewohnheiten. Das heißt, unser Denken und Handeln folgt zahllosen im Gehirn eingeprägten Impulsen, wozu übrigens auch Gefühle gehören.
Bedenke:
- Gedanken haben Konsequenzen. Wie ich über eine bestimmte Sache denke, sie bewerte, meine Gefühle ernst oder nicht ernst nehme, beeinflusst meine täglichen Entscheidungen.
- Denken und Handeln sind eng miteinander verflochten: Kein Mensch kommt ohne „Theorie“ in Form von bevorzugten Gedankensystemen aus.
- Die Wiedergeburt weckt das Verlangen, den eigenen Sinn zu erneuern (Röm 12,2). Das bedeutet, dass wir sämtliche Handlungen und Gewohnheiten nach ihrer Struktur und Richtung hinterfragen.
- Damit nicht genug. Wir bringen durch das Wirken des Heiligen Geistes auch die Kraft auf, unsere Gewohnheiten über die Zeit zu verändern. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die Reaktion der Epheser, die ihre Hausgötzen aussortierten (Apg 19,19; beachte V. 20 „So breitete sich das Wort des Herrn mächtig aus und erwies sich als kräftig.“).
Beispiel Smartphone
Das Smartphone gilt unter Soziologen als Jahrhundertänderung innerhalb unserer täglichen Handlungsabläufe und Gewohnheiten. Ein übertrieben gegenkultureller Ansatz würde die neue Technologie verdammen. In der Gemeinde würde dieses Thema dann tabuisiert. Es entstehen zwei Welten: Die „geistliche“ der Gemeinde und die des Alltags. (Interessanterweise beobachte ich dies auch in Kreisen des gelebten Zwei-Reiche-Modells.) In transformatorischen Kreisen und in klassisch „sucherorientierten“ Gemeinden entsteht umgekehrt eine Technologie-Euphorie. Der Smartphone-Technologie kommt schon fast erlösende Wirkung zu (ironisch zu verstehen).
In dieser Serie geht es darum, Tätigkeiten unseres Alltags näher zu betrachten und uns zu fragen, wie sie erneuert werden können. Übrigens habe ich hierzu eine neue eBook-Reihe „Alltag aus christlicher Weltsicht“ herausgegeben. Darin wurden von mir einige Tätigkeiten ausgewählt, die in unserem Tagesablauf viele Gedanken, Zeit und Energie absorbieren.
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