Warum lohnt es sich, Romane zu lesen?

von Sven Auerswald
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Einleitung: Die Bedeutung von Geschichten

Nach meiner Bekehrung hatte ich in meinem jugendlichen Eifer viele Gespräche mit den Zeugen Jehovas über Gott und die Welt. Besonders erinnere ich mich an eine Situation, in der ich ihnen damals von meiner neu entdeckten Liebe für Der Herr der Ringe erzählte. Nach einem peinlichen Moment des Schweigens meinte der eine nur trocken: „Warum denn irgendetwas lesen, was nicht die Bibel ist? Es gibt doch sowieso nichts Neues unter der Sonne. So eine Zeitverschwendung!“ Ich war erstmal sprachlos. Wie hättest du geantwortet?

Ich weiß, wie J. R. R. Tolkien antworten würde. 1938 hielt er eine Vorlesung „Über Märchen“ an der Universität von St. Andrews. Das war kurz nachdem er Der kleine Hobbit veröffentlicht und mit dessen Fortsetzung Der Herr der Ringe begonnen hatte. Tolkien führte drei gute Gründe an, warum wir Romane lesen sollten.


1. Weil wir in Gottes Ebenbild geschaffen sind

Er beginnt mit einer grundsätzlichen Frage: Warum gibt es überhaupt Geschichten? Haben Menschen nicht schon immer Geschichten erzählt? Ganz genau. Wir können nicht anders, als Geschichten zu erzählen und „in Geschichten“ zu denken: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wir tun das, weil wir selbst in einer Geschichte leben: In Gottes Geschichte.

Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde und als alles fertig war, schuf Gott uns. Gott hat uns diese Geschichte in seinem Wort, der Bibel, offenbart. Gott ist der Geschichtenerzähler. Weil wir in seinem Ebenbild geschaffen sind, lieben wir es, Geschichten zu hören und selbst zu erzählen.

Der Mensch als Geschichtenerzähler

Wie jede gute Geschichte, hat auch die „Geschichte vom Anfang aller Dinge“ einen Plot-Twist: Adam rebelliert gegen Gott und die Sünde kam in die Welt. Tolkien schreibt dazu: „Der Mensch, obwohl schon lange [von Gott] entfremdet, ist weder ganz verloren noch ganz verändert. Er mag in Ungnade gefallen sein, aber er ist nicht entthront… Wir schaffen nach unserem Maß und abgeschauten Muster, weil wir selber geschaffen sind – und nicht nur geschaffen, sondern geschaffen nach dem Bild eines Schöpfers.“

Auch wenn der Mensch gefallen ist, so ist er immer noch ein Ebenbild Gottes und ahmt seinen Schöpfer nach (ob er es will oder nicht): „So wie Gott den Menschen und den Rest des Universums, das Sichtbare und das Unsichtbare, erschaffen hat, so schafft auch der Mensch nach dem Ebenbild Gottes, indem er vorgefertigtes Material verwendet und es zu etwas Neuem arrangiert.“

Die Rolle der Vorstellungskraft

Dabei eifern wir unserem Schöpfer am meisten dadurch nach, dass wir unsere Vorstellungskraft verwenden und quasi „aus dem Nichts“ eine neue Welt schaffen, die allein unserer Fantasie entspringt. Tolkiens Argument lässt sich noch ein bisschen weiterspinnen: Nicht nur erfreuen wir uns daran, unsere Fantasie zu verwenden, wir erfreuen uns auch an literarischen Werken von anderen Menschen, weil wir alle im Bild des wahren Geschichtenerzählers geschaffen sind.


2. Romane schärfen unseren Sinn für die Realität

Auf unserem Weg zur Gemeinde überqueren wir jedes Mal eine Kreuzung, und das schon seit mehr als zwei Jahren. „Oh, guck mal“, meinte letzte Woche mein WG-Mitbewohner, „da hat jemand den Baum umgefahren!“ Meine Reaktion: „Da stand ein Baum?!“ Tatsächlich, direkt neben der Kreuzung lag eine zehn Meter große Linde. Wie konnte ich die übersehen haben? Nun, ich habe sie übersehen, weil ich mich daran gewöhnt hatte, dass sie dastand, sie gehörte halt zur Kreuzung.

Die Macht der Gewohnheit

Je vertrauter unser Leben, desto blinder werden wir für die Details… bis sich etwas ändert. Einen ähnlichen Effekt haben Geschichten, so Tolkien, und je weiter entrückt von unserer Realität sie sind, desto größer ist der Effekt. Jedes Mal, wenn wir aus einer guten Geschichte wieder auftauchen, sehen wir unsere Wirklichkeit mit klareren Augen. Wir brauchen Fantasy-Literatur, um „unsere Fenster zu putzen, damit die Dinge, die wir klar sehen, von der trüben Unschärfe des Gewöhnlichen oder Vertrauten befreit werden.“

Der Blick auf das Gute und das Schwierige

Das trifft sowohl auf das Gute als auch auf das Schwierige zu. Einerseits können wir allzu oft unsere täglichen Segnungen als selbstverständlich hinnehmen. Andererseits stehen wir manchmal auch in der Gefahr, es uns in dieser Welt ein bisschen zu gemütlich zu machen und zu übersehen, dass wir in einer gefallenen Welt leben, die sich nach Erlösung sehnt. Gute Geschichten berichtigen unsere blinden Flecken und helfen uns, sowohl das Gute als auch das Schwierige in unserer Welt ein bisschen mehr mit Gottes Augen zu sehen. Romane können uns dabei helfen, Gottes Welt klarer zu sehen.


3. Romane zeigen uns das Evangelium

Das letzte Element, das Tolkien als Zeichen eines guten Märchens aufführt, ist der Trost. Damit bezieht er sich vor allem auf das Ende einer Geschichte, genauer gesagt auf die Drehungen und Wendungen, durch die es zu einem guten Ende kommt. In Der Herr der Ringe sieht das der aufmerksame Leser öfter: Bei der Schlacht um Helms Klamm haben die Uruk-hai die Verteidigungslinien durchbrochen und die Festung gestürmt – aber dann geht die Sonne auf und Gandalf kommt mit Verstärkung zur Hilfe. Eine scheinbare Niederlage wird in einen Sieg verwandelt.

Die „Eu-Katastrophe“

Oder Frodo und Sam haben den Ring bereits ins Feuer geworfen und sind fest davon überzeugt, dass sie jetzt sterben werden – aber dann kommen die Adler und retten sie. Wenn alles verloren scheint, kommt eine unerwartete Rettung. Tolkien nennt das „Eu-Katastrophe“ (wörtlich: „gute Katastrophe“). Eine Eu-Katastrophe macht eine wirklich gute Geschichte aus, weil sie „die universelle endgültige Niederlage [durch den Tod] leugnet und ist insofern ein Evangelium, das einen flüchtigen Blick auf die wahre Freude gibt, eine Freude jenseits der Mauern dieser Welt.“

Die Kraft der Auferstehung

Wir sind dann wie die Jünger, die dachten, dass mit der Kreuzigung Jesu alles vorbei sei: „Und wir hatten gehofft, er sei es, der Israel erlösen werde!“ (Lk 24,21; NGÜ). Doch dann die unfassbare Nachricht: „Ich habe den Herrn gesehen!“ (Joh 20,18; ELB). Freude triumphiert über Verzweiflung; das Leben über den Tod; das Gute über das Böse. Das ist die eigentlich wahre Realität, die uns gute Bücher zeigen, meint Tolkien.

Gottes Plan wird sich am Ende erfüllen: Nach dem Kreuz kommt das leere Grab, nach dem Tod kommt die Auferstehung. Wir lieben solche Happy Ends, weil wir uns danach sehnen. Romane können uns genau diesen Trost des Evangeliums vor Augen führen.


Fazit

Romane sind nicht nur nette Unterhaltung, sondern Teil unserer geistlichen DNA. Sie zeigen uns die Realität des Evangeliums selbst: So dunkel unsere Welt auch aussehen mag – es ist nicht das Ende. Jesus hat den Tod besiegt und wird bald wiederkommen. „Und er wird jede Träne von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der, welcher auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu.“ (Offb 21,4-5).

Je näher sich Bücher an dieser Wahrheit orientieren, desto besser sind sie. Als Ebenbilder Gottes erkennen wir in jeder Geschichte die Hand unseres himmlischen Vaters, dem wahren Geschichtenerzähler. Wir erkennen, dass wir selbst Teil einer epischen Geschichte sind: Gottes Geschichte. Und die ist noch nicht zu Ende. Vielleicht würde ich das nächste Mal genau dort bei den Zeugen Jehovas ansetzen.


[1] Englischer Originaltitel: On Fairy-Stories, erstmalig als Aufsatz erschienen in „Tree and Leaf“ („Baum und Blatt“ e.Ü.)

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