Leid kommt von Gott?
Kennst du Momente oder längere Phasen, in denen ein Problem über dir schwebt wie eine dunkle Hand, die dich niederdrückt? Zeiten, in denen man sich fühlt, als ob einem selbst die Luft abgeschnürt ist? Momente, in denen man sich tatsächlich in Luft auflösen oder unsichtbar sein möchte? Ereignisse, die dich lähmen und dich mit deiner absoluten Hilflosigkeit konfrontieren?
Musstest du so etwas schon mal erdulden? Vielleicht gerade erst in den letzten Monaten? Oder steckst du noch in so einer schier ausweglosen Krise? Ist dir manchmal vor Trauer oder Wut nur zum Schreien zu Mute?
Auch Christen stellen dann gerne diese eine Frage:
„Wo war/ist Gott? Sieht er mein Elend überhaupt?“
Ohne die wirklich erdrückende Schwere so einer Situation leugnen oder relativieren zu wollen, lehrt die Bibel uns Folgendes:
- „Gott ist definitiv da. ER allein führt diese Welt souverän als Herrscher.„
- „ER kennt keine „Betriebsunfälle“.
- „ER lässt seine Kinder auch leiden!“ (Natürlich tragen wir Menschen die Verantwortung, für das Leid, was wir durch eigenes Verschulden auf uns laden oder das wir anderen zufügen. Wir können niemals Gott dafür verantwortlich machen. Aber auch dieses Leid ist Teil von Gottes Gesamtplan.)
Was ist also los in Zeiten, in denen Gott uns nicht nur scheinbar, sondern wirklich erkenn- und spürbar schlägt? Wenn unsere „Gott-ist-gut“-Floskeln nicht mehr zutreffen und schlichtweg auch nicht trösten?
In der Bibel zeigt Gott sein Wesen oft in Geschichten, die Einzelne oder sein ganzes Volk erlebten. Vieles davon können wir nicht 1:1 auf unser jeweiliges Leben übertragen, aber der Gott, der in diesen Begebenheiten gehandelt hat, ist bis heute der unveränderliche selbe geblieben. Gerade in Situationen des scheinbar grenzenlosen Leides, der tiefsten Trauer und heftigster Schmerzen bleibt Gott bei seinem Volk, lässt es nicht los und lässt es oft Dinge lernen, die das Leben seiner Kinder gravierend verändern. Das ist sozusagen die Brille, mit der die folgende Begebenheit geschrieben wurde und von uns gelesen werden will:
Jakob – ein geborener Verbrecher
Jakob war ein Mann, der sich -gelinde ausgedrückt- immer durchschummeln konnte. Schon bei seiner Geburt wollte er nicht nach seinem Zwillingsbruder Esau auf die Welt kommen und hielt sich deshalb an dessen Ferse fest. In der Bibel bringen verschiedene Personen seinen Namen deshalb auch weniger rühmlichen Deutungen wie „Betrüger“ (1. Mos. 27,36) oder „Fersenhalter“ (1. Mos. 25,26) in Verbindung.
Jakob war es gewohnt, immer irgendwie an das zu kommen, was er wollte. Er dachte nicht an andere, an die Konsequenzen seines Handelns oder dass er sein Leben vor Gott leben müsse. Er betrog seinen Bruder Esau um dessen Erstgeburtsrecht (1. Mos. 25,29-34) und legte sogar seinen eigenen, blinden Vater Isaak aufs Übelste herein (1. Mos. 27,1-29).
Dass so ein Lebensstil immer verheerende Folgen mit sich bringt, musste Jakob erfahren, als Esau beschloss, ihn für seine Betrügereien umzubringen (1. Mos. 27,41). Deshalb floh er vor seinem Bruder zu Verwandten in die weit entfernte Handelsstadt Haran (1. Mos. 28,1-5).
Jakob – eingeholt von seiner Vergangenheit
Über die Jahre musste Jakob bei seinem noch gerisseneren Onkel Laban lernen, was es heißt, hart zu arbeiten und dafür „zur Belohnung“ auch noch reingelegt zu werden (1. Mos. 29,20-28).
Trotzdem kam Jakob mit der Zeit zu Wohlstand und gründete auch eine wirklich große Familie (1. Mos. 29,31-30,43). Fast schon wie eine Art Revanche liest es sich, wie Jakob Laban hereinlegte. Auch wenn er jetzt einmal das Opfer eines Betrügers war, wirklich dazugelernt hatte er wohl nicht. Er wollte sich selbst zu seinem Recht verhelfen.
Nach einer überstürzten Flucht vor Laban (1. Mos. 31) kam Jakob zurück in die Gegend, in der er aufgewachsen war. Mit Laban hatte er Frieden vor Gott geschlossen und so sich und seine Familie retten können. Nun stand ihm jedoch die Begegnung mit seinem wohl immer noch auf Rache sinnenden Bruder Esau bevor.
Der Jakob, der immer nur weggelaufen war und betrogen hatte, wo es nur ging, war am Ende. Er sah sich in seiner dunkelsten Stunde mit Jahre zuvor bereits angekündigten Rache seines ersten Opfers, des eigenen Bruders, konfrontiert.
Jakob vor Gott– allein & hilflos in der Nacht
Der Wendepunkt in der Geschichte (1. Mos. 32,23-33) wird durch die Formulierung „in der Nacht“ mit der Begegnung davor verbunden. Jakob ist nicht nur allein draußen. Er ist mutterseelenallein und verlassen. Es ist finster. Um ihn her und in ihm. Esau würde ihn morgen umbringen. Das war das einzige, dessen er sich noch sicher war.
Auf einmal, ohne große Ankündigung, wird ein Kampf zwischen ihm und einem Unbekannten beschrieben. Ein Vers. Nicht mehr. Aber sie kämpfen bis zur Morgenröte, also sicher mehrere Stunden. Es war kein kameradschaftliches Raufen oder ein kleines Kräftemessen zwischen zwei Kindern, denen nach fünf Minuten die Puste ausgeht. Jakob musste Todesängste durchstehen. Hier ging ihm jemand ans Leben. Selbst als er scheinbar am unterliegen ist, da sein Hüftgelenk zertrümmert wird, will er nicht aufgeben. Er merkt wohl, dass sein Gegner nicht irgendein Wegelagerer ist. Nein, hier passiert etwas Übernatürliches.
Seinem Gegner ringt er einen Segen ab. Segen bedeutet mehr als nette Wünsche. Mario Tafferner hat das in seinem Beitrag zum Thema so formuliert:
„Gottes Segen zu erhalten oder zu erbitten bedeutet kurz, „das Leben im Überfluss“ zu empfangen. Das Schöne am Segen ist, dass er keine übermäßig kitschige oder spirituelle Sache ist, sondern uns als ganzen Menschen betrifft. Gottes Segen stillt nicht nur unseren körperlichen Hunger, sondern auch unseren Hunger nach Gott.“
Er hätte bitten können: „Gott, vernichte Esau! Mach mein Leben einfacher! Löse jetzt meine Probleme!“ Doch Jakob realisiert in diesem Kampf, was er wirklich braucht, um das ihm bevorstehende Leid ertragen zu können: Gott selbst! Seine Hilfe, seinen Trost, seinen Beistand. Keine Tricks mehr.
Vers 30 schließt dann mit den (wenn man nicht weiß, was Segen bedeutet, fast schon beiläufig wirkenden) Worten:
„Und er segnete ihn dort.“
Jakob, der vom Leben gezeichnet ist, um sein Leben fürchten muss, den Tiefpunkt seines Lebens durchmacht: Er wird von Gott selbst gesegnet!
Jakob geht an diesem Morgen in doppelter Hinsicht die Sonne auf: Mit dem neuen Tag wird ihm klar, dass er in der Nacht Gott begegnet ist. Anders lässt sich auch nicht erklären, dass er zu seinem Bruder Esau sagt, als der ihm am nächsten Tag wider Erwarten friedlich begegnet: (1. Mos. 33,10):
„Habe ich Gnade vor deinen Augen gefunden, so nimm doch das Geschenk an von meiner Hand; denn deshalb habe ich dein Angesicht gesehen, als sähe ich Gottes Angesicht, und du warst so freundlich gegen mich!“
In seinem Leiden wurde er von Gott gesegnet. Zu diesem Segen gehörte Zerbruch; geistlicher und körperlicher Art.
Jakob-Israel – ein neuer Held?
War Jakob also ein Mann, der eine Läuterung vom Verbrecher zum Engel durchgemacht hat? Quasi Gottes neuer „Musterknabe“?! Sicher nicht. Jakob hatte sich nicht selbst geändert. GOTT hat ihn verändert. Ganz offensichtlich und bestimmt nicht, wie Jakob sich das gewünscht hat:
- Er musste Jahre an einem Ort verbringen, an dem er überhaupt nicht leben wollte. Bei einem Onkel, der mindestens so abgeschlagen wie er selbst war. Hier konnte, ja musste Jakob wohl einiges an Demut und Ausdauer lernen.
- Er wurde von Gott physisch geschlagen: Damit war er für alle sichtbar behindert. Damals mit Sicherheit ein noch größeres Stigma als in unserer heutigen Gesellschaft. Hätte Gott Jakob zuvor nicht auch sprichwörtlich reich gesegnet, wäre er wohl spätestens ab der Begegnung am Jabbok ein arbeitsunfähiger Mann mit Großfamilie gewesen…
- Jakob war endgültig an seine Grenzen gekommen, hatte kapitulieren müssen: Gott hätte ihn ohne Zweifel besiegen können. Doch er schlug ihn „nur“. Er verschonte Jakob vor der ihm zustehenden Strafe, auch wenn er mit Konsequenzen seiner Sünde leben musste.
Denn Gott verfolgte einen Plan mit Jakob. Diesen Verbrecher, Betrüger, Dieb und Lügner wollte Gott zu sich ziehen. Warum? Weil Gott schon seinem Großvater versprochen hatte, dass aus seiner Familie ein großes Volk werden sollte, durch das alle Völker der Erde Gottes lebenserneuernden Segen erfahren würden. Dieses Versprechen hatte er auf Jakobs Flucht bei ihrer Begegnung in Bethel (1. Mos. 28,10-22) erneuert. Gott ließ Jakob leiden und zerbrechen, damit Seine Gnade tiefe Wurzeln in dessen Leben schlagen konnte. Damit dieser Mann ein lebender Beweis für Gottes grenzenlose Güte sein konnte.
Gott bleibt der Held der Geschichte
Wir haben oft mit Leiden zu kämpfen. In unserem Umgang damit zeigt sich, wofür ein Mensch eigentlich lebt. Verdrängen und Leugnen ist der Weg, den heutzutage die meisten Menschen dafür wählen:
- „Anderen geht es doch noch viel schlechter. Wie kann ich da klagen?!“
- „Das wird schon wieder, ich muss nur geduldig sein. Alles hat irgendwann mal ein Ende.“
- „Dann lasse ich es mir eben jetzt besonders gut gehen. Dann wirkt das alles nicht mehr so schlimm!“
Als Christen dürfen wir mit der Gewissheit leben, dass unser Leid und unsere Schmerzen von Gott kommen. Gott will uns mit dieser Tatsache damit vor zum einen vor blind machendem Fatalismus und zum anderen vor taub machendem Selbstmitleid bewahren.
Jakob war „Israel“
– der Held Gottes: Er durfte lernen, Gott
im Leid zu begegnen. Denn seine Heldentat bestand nicht darin, Gott etwas zu
beweisen. Stattdessen beugte er sich dem Gott, der ihn in seiner schwersten und
dunkelsten Stunde schlug. Dieser Mann sollte Gott Ehre machen.
Gott wusste, was Jakob brauchte, als Jakob still in seinem innersten nach Hilfe
schrie. Weil Er unser Leid nicht nur wahrnimmt. Gott sieht uns tatsächlich in dem
Elend, mit dem wir zu kämpfen haben.
An dieser Geschichte zeigt sich: Durch Leid gibt Gott seinen Kindern oft das was sie brauchen, nicht zwingend das, was sie wollen. Vielleicht ist es gerade das, was unseren Gott so anders macht: Er ist kein willkürlicher, jähzorniger Tyrann. Aber auch kein ohnmächtiger, ausschließlich reagierender Krankenpfleger seiner Kinder. Er ist der ewige Herr, der, seit diese Welt besteht, seinen Plan ausführt. Sehr oft so, dass es uns leichtfällt, Ihm für den Segen zu danken, mit dem er uns offensichtlich überschüttet. Und manchmal so, dass wir etwas erst von Ihm annehmen müssen, bevor wir seinen Wert erkennen. Gottes Segen kommt manchmal auf ungebetenem, schwer ertragbarem Weg zu uns. Aber er sollte niemals ungedankt bleiben. Denn Gott will und tut nur das Beste für sein Volk: Für uns, dich und mich.