Als ich 18 Jahre alt war, habe ich zum ersten Mal richtig von Jesus gehört. Ich weiß noch, wie die Christen um mich bemüht waren. Es wurde betont, wie gut es einem tun würde, mit Jesus zu leben. Alles klang so einladend. Die Botschaft, wie ich sie damals verstanden habe, lautet zusammengefasst: „Jesus akzeptiert dich genauso wie du bist.“ Irgendwie unausgesprochen, aber trotzdem impliziert kam noch hinterher: „Du musst dich überhaupt nicht verändern oder anstrengen.“ Nachdem ich Christ geworden war, habe ich dann irgendwann Bibelstellen gelesen, die ganz anders waren als das, was mir die Christen vermittelt hatten. Es war als hätte ich die dunkle Seite der Bibel entdeckt: Philipper 2,12: „Verwirklicht eure Rettung mit Furcht und Zittern.” Was? Ich dachte ich bin schon errettet. Ich dachte Jesus ist dafür da, dass ich eben keine Angst haben muss! Ich habe den Hebräerbrief gelesen, dieses Sammelsurium schrecklicher Bibelstellen:
„Denn wenn wir mutwillig sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, so bleibt für die Sünden kein Opfer mehr übrig, sondern nur ein schreckliches Erwarten des Gerichts und ein Zorneseifer des Feuers, der die Widerspenstigen verzehren wird.“
Hebräer 10,26-27
Das zu lesen hat mich verunsichert. Ebenso: „Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen” (10,31). „Jagt der Heiligung nach, ohne die niemand den Herrn sehen wird” (12,14). “Denn unser Gott ist ein verzehrendes Feuer” (12,19).
Bin ich der einzige, der das gelesen hat? Was ich las – es hat mich beunruhigt. Was ist das für ein Glaubensleben, das mit Furcht und Zittern geführt werden soll? Was ist das für eine Heiligung, die ich so dringend nötig habe? Ich hatte irgendwann den Eindruck, dass die meisten Christen, die ich kannte, solche Verse einfach verdrängen. Dass sie ein anderes Christentum leben, als das, von dem ich in der Bibel las. Sorglos, furchtlos, ohne den Ernst und ohne die schreckliche Härte Gottes, die in diesen Versen steckt. Aber ich wollte die Bibel ernst nehmen, ich wollte einen Glauben, der auf der ganzen Bibel beruht und nicht nur auf den Teilen, die mir nett und schön erscheinen. Und gleichzeitig habe ich schnell gemerkt: Ich bin selbst ganz halbherzig. Ich will es eigentlich auch kaum. Und so habe ich begonnen, „der Heiligung nachzujagen“. Seitdem hat sich in meinem Leben und in meinem Herzen erbärmlich wenig verändert. Die Suche nach Heiligung geht weiter. Ich schreibe hier über Heiligung als ein Bettler, nicht als ein Experte.
Philipper 2,12-16
Darum, meine Geliebten, wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit, verwirklicht eure Rettung mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als auch das Vollbringen wirkt nach seinem Wohlgefallen. Tut alles ohne Murren und Bedenken, damit ihr unsträflich und lauter seid, untadelige Kinder Gottes inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts, unter welchem ihr leuchtet als Lichter in der Welt, indem ihr das Wort des Lebens festhaltet, mir zum Ruhm am Tag des Christus, dass ich nicht vergeblich gelaufen bin, noch vergeblich gearbeitet habe. (Philipper 2,12-16)
Doppelte Motivation
Jesus, unser Vorbild (Philipper 1,27-2,30), will, dass wir unser Heil ausleben. Seine Demütigung und Erhöhung (2,5-11) gilt uns als Muster. Jesus hat sich am Kreuz erniedrigt, dann wurde er von Gott erhöht. Unsere Heiligung geschieht im Schatten seines Kreuzes, im Schatten seiner Demut. „Darum“ in Vers 12 verknüpft unsere Heiligung mit der Ehre Gottes (2,11). Deshalb ist sie etwas „Furchtbares“. „Darum, meine Geliebten, (…) verwirklicht eure Rettung mit Furcht und Zittern.“ Es soll mich mit Furcht und Zittern erfüllen, dass bei meinem Lebenswandel Gottes Ehre auf dem Spiel steht! Jesus starb für mich, zur Ehre Gottes, damit ich erlöst und geheiligt werde! Das soll etwas mit mir machen, es kann mich nicht unberührt lassen. Diese Furcht ist sehr wertvoll; sie ist eine große Motivation. Und die brauchen wir auch. Das Wort „verwirklichen“ meint nämlich „gründlich arbeiten/keine Mühe scheuen/etwas zur Vollendung bringen“. Wir brauchen einen geistgewirkten Antrieb, eine heilige Unruhe, um jahrzehntelang, beständig und mit Kraft an unserer Heiligung zu arbeiten.
Die zweite große Motivation für unsere Heiligung beschreibt Paulus so: „Denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen, als auch das Vollbringen wirkt“ (2,13). Die Tatsache, dass Gott in uns arbeitet, soll uns mit Furcht und Zittern erfüllen, sodass wir fleißig und gründlich und ehrgeizig am Werk sind, um ein heiliges Leben zu führen. Wir sollen sein Wirken in uns furchtbar ernst nehmen. Nicht im Weg stehen, nicht behindern, nicht dagegen wehren, sondern aus Herzensgrund mit anpacken. Da Gott in dir arbeitet, arbeite auch du! Es soll uns mit wirksamer Furcht und Zittern erfüllen, dass unser Gott, ein verzehrendes Feuer, in uns wirkt. Das ist doch viel besser, als Furcht und Zittern einfach ganz aus dem Christsein zu verdrängen.
Sterne murren nicht
Jetzt folgen die konkreten Anweisungen: „Tut alles ohne Murren und Bedenken“ (2,14). Das betrifft deine Einstellung: Murren ist, was Israel in der Wüste tat. Sie haben sich mit Händen und Füßen gegen ihre Erlösung aus der Sklaverei in Ägypten gewehrt. Dieses Murren ist eine alttestamentliche Chiffre für Unglauben. Vers 15 sagt, warum wir nicht „murren“ sollen: Damit wir leuchten. Das Licht der Welt zu sein, bedeutet hier: Nicht murren, sondern fröhlich Gott vertrauen, in allem. Ein Christ, der murrt, sagt dadurch nämlich den Nichtchristen: Es lohnt sich nicht, Jesus nachzufolgen.
Wir sollen leuchten wie die Sterne (2,15). Und was für Sterne! „Unsträflich, lauter, untadelig“! Wecken diese Worte deinen Ehrgeiz? Oder eher deinen Kleinglauben? Unsträflich meint, dass es nichts an dir zu kritisieren gäbe. Jede Strafe würde sofort völlig unbegründet erscheinen. Lauter bist du, wenn bei dir keine Hintergedanken, keine Heuchelei zu finden sind. Untadelig mussten Opfertiere im Alten Testament sein, ohne Makel: Ohne irgendetwas, das sie unwürdig machen würde, Gott geopfert zu werden. Passen diese drei Eigenschaften überhaupt in dein Konzept vom Christsein? Rechnest du noch mit solchem Wachstum bei dir? An wem zweifelst du? An dir selbst, oder am Heiligen Geist, durch den Gott dich so verändern will?
Wie Heiligung funktioniert
Aber wie? Wie sollen wir so leuchten? „Indem ihr das Wort des Lebens festhaltet“ (Vers 16). So will Gott in dir „sowohl das Wollen, als auch das Vollbringen wirken“ (Vers 13), indem du am Wort des Lebens festhältst. Wenn ich eins gelernt habe auf meiner bisherigen Suche nach mehr Licht in meinem Leben, dann das: Du musst das Evangelium immer wieder glaubend hören. Das ist das Wort des Lebens: Er litt für dich. Er erniedrigte sich. Er machte sich zum Sklaven und starb für dich. Er hat alles für dich getan. Genau das wird dir zugerechnet und dieses Gnadengeschenk berührt unser Herz, zerbricht es, heilt es, demütigt es und lässt es wissen, dass es geliebt ist. Das Evangelium tut diese Dinge in uns immer wieder, über Jahre, sodass wir sie immer wieder ein bisschen mehr zu Herzen nehmen.
Seine völlige Sündlosigkeit gehört jetzt dir. Wenn du das bedenkst, dann ändert das etwas in deinem Herzen. Wir können nie genug von diesem Wort des Lebens kriegen: Wenn du in Versuchung bist, brauchst du das Evangelium. Wenn du schon wieder in Sünde gefallen bist, brauchst du das Evangelium. Wenn du heute – schon wieder – Pornographie geschaut hast, brauchst du das Evangelium. Sofort, nicht erst morgen, sofort! Wenn du eifersüchtig bist, brauchst du es, wenn du dich angegriffen fühlst, wenn du leidest, wenn du trauerst, wenn du einen guten Tag hattest.
„Darum sollst du Gott bitten, er möge dein Herz erweichen und dich in fruchtbringender Weise Christi Leiden bedenken lassen. Es ist nämlich auch nicht möglich, dass Christi Leiden von uns gründlich betrachtet werden könnte, wenn nicht Gott es in unser Herz senkt (…). Denn dieses Nachdenken wandelt den Menschen in seinem Wesen um (…). Hier wirkt das Leiden Christi sein rechtes, natürliches, edles Werk: Es erwürgt den alten Adam.“
Luther
Das ist Heiligung. Früher dachte ich, der Kampf werde um die Heiligung geführt. Aber es geht nicht darum, Heiligkeit zu ergreifen, sondern Christus. IHN im Glauben zu ergreifen, weil ich von IHM ergriffen bin. „Verwirklicht eure Rettung“ kann eigentlich nur bedeuten: Glaubt! Wenn wir unsere Rettung verwirklichen sollen, indem wir nicht murren, sondern am Wort des Lebens festhalten, dann geht es um unseren Glauben. Wir murren nicht, und sind tadellos und leuchten als Lichter, indem wir im Glauben das Evangelium festhalten. So verwirklichen wir unsere Rettung.