Ich liebe es Biografien zu lesen. Nicht um dieser Welt zu entfliehen und mich an Heldengestalten zu ergötzen. Vielmehr geht es darum, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur eigenen Biografie festzustellen, sich an neuen Ideen zu reiben, Wachstumszonen (wieder) zu entdecken und Lernfelder abzustecken. Menschsein und Christsein verbinden mich mit Theo Lehmann, mehr noch: Ich bin selbst in gutem christlichem „Humus“ aufgewachsen – Lehmann spricht in seiner unnachahmlichen Sprache von „Pastorenhumus“. Auch ich habe keine „Bekehrung“ im Sinne einer Nennung von Tag und Stunde erlebt, wohl aber eine Hinwendung zu Christus in den Jugendjahren. Die Taufe war für mich das, was für ihn die Konfirmation war, das Bekenntnis zum christlichen Glauben. Seine Lebenspur verlief nicht geradlinig. Sie war schon in der Phase der Ausbildung von Hindernissen gepflastert. Lehmann fiel, zusammen mit einem anderen Anwärter der Theologie, durch das Abitur. Die sozialistische Lehrkraft ließ ihn in „Gegenwartskunde“ durchsausen. Später wurde ihm die Assistenzstelle an der Universität verwehrt. Er hatte es seinem Vater zu verdanken, der sich hartnäckig für ihn einsetzte. So konnte doch als Pionier zur Theologie der Negro Spirituals promovieren, zu einer der DDR Musik verschrieenen Musik des Westens. Er lebte lange in einer Einzimmerwohnung. Durch diese Mühen führte ihn Gott in seine Berufung als Jugendevangelist, und das als ordinierter und promovierter Pfarrer der sächsischen Landeskirche.
Mein Hauptlernfeld war schnell ausgemacht: Lehmann spricht vom jahrzehntelangen hartnäckigen Widerstand gegen seinen Dienst. Er kam natürlich von Staates Seite. Man suchte ihn zu diskreditieren, wo man nur konnte. Mit verunglimpfenden Briefen, Anstachelung von Konflikten bei den Pfarrbrüdern, der Diffamierung von Frau und Ehe, Straßensperren. Als Lehmann Jahrzehnte später seine mehrtausend Seiten umfassende Akte las, waren das sehr schwierige Momente für ihn. Einer seiner besten Freunde, dem er vertraut hat, befand sich unter den Denunzianten. Zum Glück wusste er nicht, was alles gegen ihn geplant worden war. Die meisten Anschläge hatte Gott in seiner souveränen Vorsehung verhindert.
Der Hauptwiderstand kam jedoch nicht von des Staates Seite, sondern aus den Reihen der Kirchgemeinden, die er besuchte. Wie entwürdigend ihn die Pfarrkollegen doch behandelt haben! Die Palette reichte von dem, was wir heute Mobbing nennen (Verweigerung des Kontakts, keine Begrüßung, keine Einführung vor Ort, Geschwätz hinten durch) hin zum offenen Widerstand: Störung des Gottesdienstes, lange Gespräche vor und nach den Predigten, Beschwerden und Anzeigen an die Kirchenoberen, böse Worte. Ebenso beschämend war jedoch die Versorgung des Evangelisten. Man ließ ihn auf dem Boden schlafen, auf harten Kirchenbänken, in alten Betten, im Gartenhaus und im Keller. Man ließ ihn darben. Alles mit der Begründung: Das wird für einige Tage schon gehen. Dabei war Lehmann als Jugendevangelist die Hälfte des Jahres unterwegs. Ich musste oft an den Satz von Jesus denken: „Und ihre Liebe wird erkalten.“
Was waren die inhaltlichen Vorbehalte? Natürlich sein Kernanliegen der Evangelisation. Nicht nur Dienstneid, nein, auch blanker Unglaube des atheistischen (auch kirchlichen) Umfelds war die nie endende Begleitmusik. Gericht, Strafe und ewiges Verderben, Drohmittel einer vergangenen Zeit. Sünde und Rechenschaft, ein veraltetes Menschenbild, das zum Fürchten war. Der Glaube an die göttliche Inspiration der Bibel, ein dogmengläubiges, engstirniges Festklammern an menschlichen, irrigen Worten. Sehr interessant, wie Pfarrer Lehman es vor allem zu spüren bekam, wenn er in einem Bereich der christlichen Ethik Klartext redete: Der Sexualität. Homosexualität und Promiskuität wurden nicht ausgeklammert. Weshalb sollte man Menschen auch in ihrem Elend lassen? Wenn die göttliche Ordnung verworfen wird, wirkt sich das nicht zuletzt auf das persönliche und gesellschaftliche Wohl aus. Menschen, denen der Heilige Geist die Augen öffnet, erkennen diese Widersprüche und sehnen sich nach Umkehr und Wiederherstellung.
Gott hat den Dienst von Lehmann hundert- und tausendfach bestätigt. Er hat ihm kein einfaches Leben geschenkt. Nein, er hatte mit 44 Jahren einen Herzinfarkt. Kaum wieder aus der Reha, musste er seine äußerst anstrengenden und unangenehmen Dienstreisen fortsetzen. Seine Frau wurde in einen Prozess wegen Alkohol am Steuer mit falschen Zeugen zu Unrecht belastet, was ihr psychisch schwer zugesetzt hat. Die Kinder durften wegen seines Berufes und seines Dienstes keine Universität besuchen und waren in der Berufswahl empfindlich eingeschränkt. Über vier Jahre mussten sie in einer Wohnung ausharren, aus der man die Familie längst schon draußen haben wollte. Doch: Die vielen Kraft raubenden, in die Tiefe gehenden Gespräche über den Glauben hat Gott ebenso gesegnet wie die unzähligen Predigten. Kirchen waren gefüllt mit hunderten und tausenden von jungen Mengen – und das im atheistischen, kommunistischen Osten Deutschlands!
Lehmann erkannte von Anfang an seinen Schwerpunkt, die Predigt. Er verwandte viel Zeit und Energie in der Vorbereitung. Dazu gehörte ein von ihm selbst angeordneter Arbeitsplatz. Er verstärkte sich mit einem Sänger. Sie schrieben gemeinsam eigene Lieder. Ein einfacher, klarer Aufbau des Gottesdienstes, ebenso klare, kurze Sätze – ohne Schnörkel, ohne die Spitzen zu schmälern. Lehmann war ein Manuskriptmensch. Aufbau und einzelne Sätze wie der Einleitungssatz waren sorgfältig ausstudiert. Ein kleines Team von hingegebenen Mitarbeitern begleitete ihn. Auch hier war Lehmann ohne Kompromiss. Wenn ein Mitarbeiter in wilder Ehe lebte, wurde er konfrontiert. Er musste sich auch schon mal unter Tränen von bewährten Helfern trennen.
Fazit: Das Buch ist ein Muss für alle, die im Verkündigungsdienst stehen. Gerade auch für junge Menschen. Lehmann ist ein Rufer für das Evangelium, gegen die abschwächenden und verwässernden Botschaften der von Konsumgesellschaft und ethischem Relativismus geschwächten nachchristlichen Gesellschaft. Ich musste an Philipper 1,29 denken: Uns Christen ist es geschenkt (!), für Christus zu leiden. Es wirft uns auf ihn. Es hält uns demütig. Es lässt uns erkennen, dass dieses Leben erst der Anfang ist. Eigentlich dreht sich dieses Buch um das Zentrum unseres Lebens, nämlich um das Evangelium und den Widerstand, den wir dafür gewärtigen müssen. Der Aufbau ist keineswegs abgerundet und fließt auch nicht leicht dahin. Ich empfehle die gewichtige und schwer verdauliche Lektüre – zu SEINER Ehre.
2 Kommentare
[…] Für Josia – Truth for Youth habe ich die wichtige Biografie rezensiert. […]
Danke für die Rezension zu diesem Buch. Für mich war es eher eine Erinnerung, denn ich habe es vor Jahren schon gelesen. Das Buch macht zugleich wütend und dankbar, es begeistert und fordert heraus. Ich empfehle es sehr zu lesen.