Der Ruf aus der Wüste, der Zeitgeist und du – Teil 2

von Hanniel Strebel
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Hanniel Strebel hat drei Bücher besprochen, die sich mit der Lage des westlichen Christentums befassen. Inhaltlich geht es um Relativismus, Wahrheit, Gottes Wort und die Gemeinde. Style ohne Substanz trägt nicht. Die dreiteilige Reihe zeigt warum.

David F. Wells – The Courage to be Protestant: Gegen die Übel des Evangelikalismus

David F. Wells (* 1939), Research Professor vom Gordon-Conwell Seminary, ist nach den Worten von Colin Hansen einsamer „Rufer in der Wüste“ gegen die Übel des Evangelikalismus. So einsam fühlt er sich, so gab er in diesem Interview zu Protokoll, jedoch nicht. Er trifft auf immer mehr Stimmen, die seine Bedenken aufnehmen. Ich zähle mich selbst mit dazu.

Wie üblich las ich zuerst das Inhaltsverzeichnis. Ich konnte mit den vielen Untertiteln wenig anfangen. Erst beim Lesen wurden sie mir richtig erschlossen. Dann suchte ich nach dem Literaturverzeichnis und fand keines. Im Vorwort wurde mir klar, dass dieses Buch eine Zusammenfassung der Argumente aus vier vorhergehenden Werken ist. Wells fasst die Essenz von 1100 Seiten – welche wiederum die Frucht jahrzehntelanger Studie ist – zusammen. Die Struktur des Buches war auf den zweiten Blick sehr einleuchtend: Zuerst entwirft Wells ein Bild der evangelikalen Landschaft. Sie besteht aus drei Segmenten: Den traditionellen Evangelikalen, den „Marketers“ und den Emergenten. Diese Kritik buchstabiert er entlang den vier Hauptgebieten (zu denen er je ein separates Buch schrieb) aus: Der Verlust der Wahrheit, das verlorene Zentrum – Gott, das losgelöste Selbst, die missverstandene Christologie (=Lehre von Jesus Christus) und ein schiefes Verständnis von Kirche.

Die These

Seine These lautet: In den Nachkriegsjahren haben sich die Evangelikalen um zwei Kernüberzeugungen gesammelt, nämlich die volle Autorität der inspirierten Schrift und die Zentralität von Jesu stellvertretendem Sühnetod (S. 5). Dem folgte eine anhaltende Schwächephase durch steigende Gleichgültigkeit gegenüber biblischer Lehre. „Das Christentum  wurde zunehmend  auf private, innere, therapeutische Erfahrung reduziert.“ (S. 8) Zudem wurde der Glaube von der lokalen Gemeinde losgelöst. „Der Glaube wurde individualistisch, selbst-fokussiert und konsumorientiert“ (S. 11). Das zweite große Segment seit den 1980er-Jahren bilden die sogenannten „Marketers“. Sie holten mit dem Argument „wir behalten die alte Botschaft, verpacken sie einfach neu“ Businessstrategien in die Kirche. Wells vergleicht Gemeinden mit den Einkaufszentren: Wir holen uns, wann wir es wollen, das, wozu wir gerade Lust haben. Dies bereitete den Boden für eine nächste Generation, die Emergenten. Sie sind besonders skeptisch gegenüber Macht und Strukturen. Sie schließen sich in losen Netzwerken zusammen. Was von den „Marketers“ inhaltlich ausgehöhlt worden war, besetzen sie mit einem Sammelsurium von neuen Inhalten. Sie experimentieren mit anderen Gottesdienstformen. Die Diagnose stimmt nachdenklich: „Ich weiß nicht, was die evangelikale Zukunft sein wird, aber ich bin sicher, dass der Evangelikalismus keine gute Zukunft hat“ (S. 21). Zumindest dann, wenn keine Kursänderung gelingt.

Die Grundsatzkritik

Dann formuliert Wells seine Grundsatzkritik: Den Einzug der Marketingstrategie in die Gemeinden und den damit einhergehenden Verlust inhaltlicher Substanz. Die Methodologie hat den Glauben – entgegen allen Beteuerungen – mit verändert (S. 28). Wie sollte zum Beispiel zum Ausdruck kommen, dass ein Glaube für alle Generation mit derselben Botschaft gilt, wenn mit altersgerechten Programmen feinste Zielgruppen-Segmentierung betrieben wird? Wells blickt auch nach außen auf die gesellschaftlichen Veränderungen. Was er feststellt, ist für uns nichts Neues: Wir werden mit medialen Impulsen überflutet. Doch niemand hört mehr zu. Wir sind einsam geworden. „Einsamkeit ist die moderne Plage.“ (S. 33) Viele Gemeinden arbeiten nach dem Business-Modell: Wahr ist das, was funktioniert. Zum sensiblen Umgang mit dem Zielmarkt gehört, das eigene Klientel nicht mit zu anspruchsvollen oder fordernden Inhalten zu vergraulen. Schließlich entscheidet der souveräne Gottesdienst-Konsument darüber, welche Produkte er kauft oder nicht. Als autonomer Kunde befindet er über die Inhalte, inklusive des Wortes Gottes – und hier sehe ich den springenden Punkt. Eine Folge davon ist die Taktik, mit den Kerninhalten zurückhaltend umzugehen und sie in den Hintergrund zu rücken („niederschwellig“). Nichtchristen sind nicht länger Unbekehrte („unconverted“), sondern Kirchendistanzierte („unchurched“, S. 45).

 „Meine Schlussfolgerung ist, dass sich absolute Wahrheit und Moral in der Gesellschaft deshalb schnell zurückbilden, weil sie ihren Grund in Gott als objektiven, außerhalb unseres Selbst verorteten, transzendenten Referenzpunkt verloren haben.“

S. 61

So bleibt nichts mehr außerhalb des Individuums, das als Maßstab für die eigenen Handlungen dienen kann und darüber bestimmt, ob etwas wahr oder falsch ist. Wir haben das Zentrum, nämlich Gott verloren. Das destabilisiert uns nachhaltig. Dies wiederum ist Nährboden für die „therapeutische Kultur“. Dieses Unkraut ist mittlerweile ein solch großes Gewächs geworden, dass es unserem gesellschaftlichen Boden eine Menge Nährstoffe entzieht. Wir versuchen von uns selbst aus zu Gott durchzudringen. Dabei geschieht es ja gerade umgekehrt: Gott spricht und definiert Wahrheit. All diese Verirrungen bilden sich im Verständnis von Kirche ab. „Was jemand über die Kirche denkt, sagt uns, was diese Person über das Christentum denkt.“ (S. 209)

Die Botschaft

Die Botschaft lautet zusammengefasst: Weiterhin dem historischen Protestantismus verpflichtet zu bleiben, bedeutet mutiges Aufstehen und Stehenbleiben. „Es ist Zeit, weiter zu gehen. Es ist Zeit, wieder Protestant zu werden.“ (S. 58) Dieser Aufruf hallt durch das ganze Buch. Wells gelingt eine umfassende Kritik ohne vereinfachende Lösungen anzubieten oder in einen bösartigen Ton zu verfallen. Manches, was er beschreibt, mag vor allem für die USA zutreffen. Wenn Wells von den Megakirchen schreibt und ausführlich auf die Resultate von George Barna, dem Kirchen-Marktforscher, zurückgreift, lässt meine Konzentration für kurze Momente nach. Es bleibt jedoch mehr als genug übrig, um sich als Kontinentaleuropäer im Buch wieder zu erkennen. Schließlich holen wir uns die Ideen von „drüben“. Wells betont, dass der Weg zurück nicht mit einem 12-Schritte-Programm zu bewerkstelligen sei. Ebenso wenig definiert er es als Ziel des Buches, die Umsetzung der Erkenntnisse entwerfen zu wollen. Er habe, so nimmt er auf eigene Kritiker Bezug, es selbst unterschätzt, dass viele vor allem jüngere Menschen gar kein Bild von gesundem, robustem Glauben mehr besäßen (S. 217).

Eine persönliche Reflektion

An diese Stelle passt eine kurze persönliche Reflektion. Ich habe selbst die letzten 20 Jahre in einem „Marketer“-Umfeld zugebracht. Was mit Enthusiasmus angefangen hat (v. a. hinsichtlich evangelistischer Bemühungen), entpuppte sich als weitere „Insider“-Geschichte. Wir haben uns – mit viel gutem Willen – vor allem selber unterhalten. Entsetzt musste ich mit ansehen, dass eine Generation Kinder aus diesem Umfeld genau das wurden, was Wells ankündigt: Dem Glauben entfremdete, der Konsumgesellschaft gleich geschaltete Menschen („the children of these evangelicals will become full-blown liberals“, S. 2). Im Bemühen, relevant zu sein, haben wir ihnen den Abklatsch unserer Alltagskultur vermittelt: Kirche als weiterer Kanal des Konsums, mit ständigen Wahlmöglichkeiten, vielen „Geschenken“ und wenig Inhalt. Das Umfeld der Babyboomer gefiel ihnen nicht, und sie verließen uns. Wir sind das geworden, wovor wir uns am meisten fürchteten: OUT. Diese Angst war dieselbe, welche das liberale Christentum schon vor Jahrzehnten umtrieb. Die Resultate sollten uns eigentlich genügend bekannt sein: Geleerte Kirchenbänke. Ich bleibe zuversichtlich, auch wenn die Herausforderung unmöglich scheint. Warum? Wir sind aufgerufen, gleichermaßen sensibel zu bleiben für Gottes Wort wie für die uns umgebende Kultur. Ich stimme ein in den Ruf von Paulus: „Predige das Wort!“ (2. Timotheus 4,2) Es allein hat die Kraft, Menschen selig zu machen (2. Timotheus 3,15). Diese Zusage gilt auch für das 21. Jahrhundert. Nur dann haben wir als Gemeinden die Chance, gesund zu werden und uns von der „so leicht umstrickenden Sünde“ (Hebräer 12,1) zu trennen.

Das Buch könnt ihr hier bestellen: David F. Wells. The Courage to be Protestant: Truth-lovers, Marketers and Emergents in the Post-modern World. IVP: Nottingham, 2008.

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5 Kommentare

Buchbesprechung: Eine Grundsatzkritik am therapeutischen Glauben | Hanniel bloggt. 13. März 2014 - 08:38

[…] der zweiten Folge “Der Ruf aus der Wüste, der Zeitgeist und du” auf Josia bespreche ich das Buch von […]

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Rückblick 2014: 3 Bücher, die mich beschäftigten | Hanniel bloggt. 18. Dezember 2014 - 08:51

[…] David F. Wells. The Courage to be Protestant. […]

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Standpunkt: Warum der Richtungskampf | Hanniel bloggt. 22. Januar 2016 - 12:50

[…] streicht er im Folgeband "The Courage to Be Protestant" heraus (auch hierzu habe ich eine Besprechung geschrieben). Wie sollte zum Beispiel zum Ausdruck kommen, dass ein Glaube für alle Generation […]

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Nachbetrachtung: Lasst uns niemals mit Lifestyle-Tipps zufrieden sein! | Hanniel bloggt. 15. Februar 2016 - 10:18

[…] David F. Wells (*1939), US-Amerikaner, der seine Kindheit und Jugend im afrikanischen Busch verbrachte, lieferte zur ganzen Entwicklung die schlüssige Erklärung, die ich 2014 auf Josia – Truth for Youth so zusammenfasste: […]

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Stationen meines Aufwachens (3): Die Shopping-Mentalität der Gemeinden – Hanniel bloggt. 31. Oktober 2017 - 08:44

[…] Eine wichtige Einschätzung, der ich weitgehend zustimme, ist Wells‘ Charakterisierung seit den 1970ern: […]

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